Meinung: Der Fall Kirk - the worst of both worlds

16.09.2025
Persönliche Meinung

Blogbeitrag von Finn Wandhoff, Mitglied im JU Bundesvorstand

Noch weiß die Welt nicht viel über die Hintergründe des Attentats auf Charlie Kirk an der Utah Valley University am vergangenen Mittwoch, aber die ganze Welt spricht darüber und es gibt kaum jemanden, den dieses Ereignis kalt gelassen hat. Das geht in verschiedenste Richtungen: Bei einer Mehrheit sitzt der schiere Schock über die Bilder der Tat tief, unabhängig von politischen Bewertungen, aber zeitgleich bekämpfen sich im Internet zwei Gruppen aufs Schärfste. Während eine der Gruppen versucht, den Begründer des rechten Netzwerks „Turning Point USA“ zum Märtyrer zu stilisieren, der gegen eine „Woke-Meinungsdiktatur“ sein Leben gelassen habe, versuchen einige Linksliberale bis Linksextreme, den Anschlag zu rechtfertigen, zu verharmlosen oder verkitschen ihn sogar zum Tyrannenmord. Die Auseinandersetzung um diese beiden extremen Deutungen, der Märtyrertod gegenüber dem Tyrannenmord, zeigt das Schlechteste beider Seiten des politischen Spektrums und ist mindestens genauso bemerkenswert und wichtig wie die Tat selbst.

Das Entscheidende sind die Reaktionen auf die Tat

In der Geschichte ist der Mord an Politikern leider ebenso präsent wie er immer wieder grausam ist, das gilt insbesondere für die Vereinigten Staaten. Abraham Lincoln, Kennedy und Martin Luther King sind nur drei der prominentesten Fälle. Nicht umsonst hat Tocqueville den bekannten Satz geprägt: „In keinem Land gilt die Meinungsfreiheit in der Theorie so viel und in der Realität so wenig, wie in Amerika.“ Darin ist schon das ganze Spaltungspotential der Zwei-Parteien-Demokratie zusammengefasst, das einerseits eine große Lust am Streit, andererseits ein tiefes Versinken in einem der Lager ermöglicht. So tragisch der Mord an Charlie Kirk auch ist - die Tat selbst ist im historischen Kontext derzeit nicht das Außergewöhnliche. Vielmehr sind es die extremen Reaktionen, die ein Novum darstellen, über das gesprochen werden muss. Denn die Art, wie wir über den Toten und den Mord an ihm reden, ist im Gegensatz zur Tat selbst ein gesellschaftliches Massenereignis und kein tragischer Einzelfall. Wahrscheinlich werden bereits an dieser Stelle einige Leser, die sich der rechten Seite zugehörig fühlen, einwenden wollen, dass es eben doch um die Tat selbst ginge, weil sie repräsentativ für die radikale Intoleranz der anderen sei. Dieses Fazit lässt der Vorfall jedoch derzeit nicht zu. Erstens ist der ideologische Hintergrund des mittlerweile festgenommenen Hauptverdächtigen nicht eindeutig und zweitens existiert kein statistisches Übergewicht von linksmotivierten politischen Morden. Erst im Juni wurde die weniger prominente demokratische Politikerin Melissa Hortman aus politischen Motiven in Minnesota ermordet. Wer jetzt aber von links innerlich Beifall klatscht, den möchte ich ebenfalls enttäuschen: Denn was in den USA tatsächlich statistisch belegbar ist, ist eine erschreckend hohe positive Resonanz unter demokratischen Wählern gegenüber der Möglichkeit eines Anschlags auf Trump. Es herrscht also insgesamt ein Klima der politischen Entfremdung, in dem politisch motivierte Gewalt legitimer zu werden scheint. Dieses Klima wird jedoch nicht erst durch eine solche Tat erzeugt, sondern entsteht lange vorher in der politischen Debatte. Aus diesem Grund ist die derzeitige Folgediskussion entscheidend für die Bekämpfung oder eben Förderung politischer Gewalt in der Zukunft.

Kirk ist kein Märtyrer

Es ist ein Zeichen politischer Reife, sein Mitgefühl und Beileid auch denen zukommen zu lassen, deren Agenda man teilweise oder gänzlich ablehnt. Eine solche Reife beweisen derzeit viele Demokraten in den USA, während sie in der deutschen Linken fast gänzlich zu fehlen scheint. Die Versuchung unter Konservativen ist daher groß, einer Reizfigur wie Kirk postum die Märtyrerkrone aufzusetzen, wenn man bei seinen Gegnern so viel schlechtes Benehmen sieht. Dieser Versuchung muss man jedoch aus mehreren Gründen widerstehen.
Es ist stark zu bezweifeln, dass Kirk mit den typisch liberal-konservativen Positionen in Deutschland etwas hätte anfangen können. Weder der außenpolitische Isolationismus noch der radikale wirtschaftliche Liberalismus nach innen noch die demokratietheoretischen Gedanken haben etwas mit der Politik Adenauers und Kohls zutun. Jemanden hingegen aus reiner Provokation zur Galionsfigur zu erheben, wäre ja rein vom politischen Gegner her gedacht und inhaltlich nicht haltbar. Kirk ist eine Figur des Kulturkampfes. Darin besteht allerdings der nächste Grund, der gegen die Hochstilisierung des Ermordeten spricht: Kirk war abseits aller streitbaren bis absurden Positionen jemand, der den Kulturkampf in einem demokratischen Stil gelebt hat. Er wurde dadurch bekannt, dass er aktiv und unablässig die Auseinandersetzung suchte, gerade mit denjenigen, die ihn völlig ablehnten. Dieses Prinzip wird jedoch gänzlich unterminiert und unmöglich gemacht, wenn man denen, mit denen man sich auseinandersetzen will, einen Märtyrer entgegenhält. Denn sobald in der Botschaft mitschwingt „Ihr habt ihn auch auf dem Gewissen“, endet jede Diskussion. Vor allem bleibt aber zu sagen, dass Märtyrer-Mythen egal welcher Art einer freien Gesellschaft und auch einer christdemokratischen Partei nicht gut zu Gesicht stehen. In der massenhaften Glorifizierung für doch nur allzu Menschliches geht die Wahrheit schneller baden, als man glaubt.

Mal wieder: Linke Doppelmoral

Noch bedenklicher als die Glorifizierung auf der einen Seite, ist die brutale Verrohung der Reaktionen auf der linken Seite des Meinungsspektrums. Beides ist eine Fehleinschätzung, aber letztere trägt aktiv zur Legitimierung von Taten wie dieser bei. Im Internet waren kurz nach dem Anschlag zahlreiche Reaktionen aus den USA zu sehen, in denen vor allem junge Linke absurd auf den Anschlag reagierten: Neben blanker Freude war viel Hohn, Spott oder im besten Fall noch Gleichgültigkeit dabei. Es brauchte aber nicht den Blick nach Amerika, um Reaktionen dieser Art zu finden. Hochrangige Mitarbeiter der Linken und Influencer reagierten in Deutschland ebenso inhuman und brutal auf den Mord; die Fälle dürften den meisten Lesern bekannt sein. Was aber bedeutet diese Reaktion konkret, neben totaler Verrohung? Sie bedeutet nicht weniger, als dass es Menschen gibt, die ein derart großes inneres Störgefühl durch eine fremde Meinung empfinden, dass ihnen die Beendigung der ganzen Person nicht nur legitim, sondern sogar wünschenswert erscheint. Als moralische Rechtfertigung wird hier natürlich der Tyrannenmord wie ein Revolver vom Gürtel gezückt. Diese argumentative Waffe wird jedoch durch ihren so billigen Missbrauch genauso schnell zur Wasserpistole, wie die Nazikeule längst zum Gummihammer geworden ist. Charlie Kirk war ein rechts-revolutionärer Aktivist mit großem Einfluss auf die öffentliche Meinung, aber er hatte kein politisches Amt inne und war weit entfernt von exekutiver Machtausübung. Seine Macht lag im Wort, das er vor allem über die Sozialen Medien verbreitete. Wer sich aber von Worten tyrannisiert fühlt und mit ihnen einen Mord rechtfertigt, hat seine eigene Anschlussfähigkeit an eine offene Gesellschaft längst aufgegeben. Schlimmer noch, er sorgt für eine Normalisierung der Gewalt. Diejenigen, die dem Attentäter applaudieren, werden absurderweise für den nächsten Mord an einem der ihren mitverantwortlich sein. In den linken Reaktionen auf diesen Mord zeigt sich eine Doppelmoral, die dafür mitverantwortlich ist, dass die linksliberale Bubble auch in Deutschland immer mehr Menschen vor den Kopf stößt. Links sein heißt in der Selbstbeschreibung vieler Linker vor allem immer wieder „menschlich“, „tolerant“, „friedfertig“ sein. Diese Grundsätze werden aber offensichtlich frei von Handlungsprinzipien aufgestellt - sie können beliebig verschoben werden, sobald eine Meinung nicht in das eigene Korsett passt. Es geht also nicht um die Toleranz gegenüber Andersdenkenden, sondern es geht meistens um die Toleranz gegenüber äußeren Merkmalen, Hautfarbe, sozialer Herkunft, Religionszugehörigkeit. Die politische Anschauung hat aber bitte gleich zu sein. Darin liegt die Brutalität der Political Correctness. Darin liegen auch Ursprünge der verdorbenen Debattenkultur.

Die Gewaltspirale brechen

„Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden.“ So hat es die marxistische Politikerin Rosa Luxemburg gesagt, vermutlich nicht nur aus Eigeninteresse. In dem immer gültigen Satz steckt ein extrem herausfordernder Aufruf an alle, ihren eigenen Freiheitsbegriff nicht zu domestizieren. Wenn man also merkt, dass man die Meinung eines anderen gern verbieten würde, ohne dass sie bereits verboten ist, sollte man seinen eigenen Freiheitsbegriff hinterfragen. Die oben beschriebene Situation ist nur ein Mosaik der gesamten Debatte um Charlie Kirk, die stellvertretend für elementare Fehlentwicklungen in unserer politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung steht. Politische Weltanschauungen stehen sich immer unversöhnlicher gegenüber und werden nebenbei zu Identitätsstiftern. Politische Aktivisten werden zu Märtyrern und Attentäter zu Tyrannenmördern. Wer eine Gesellschaft in Brand stecken möchte, ist mit diesen Mitteln schon einmal nicht auf dem schlechtesten Weg. Für alle anderen aber, insbesondere für diejenigen, die von sich selbst glauben wollen, für Freiheit und Demokratie einzutreten, kann das nicht gelten. Ihnen bleibt eine deutlich härtere Aufgabe: Sie müssen die Freiheit des Andersdenkenden verteidigen. Freiheit, die nur für solche Meinungen gilt, die einen nicht reizen, ist nichts wert. Anstatt dieses Reizgefühl durch fremde Meinungen in Angst und Hass zu verwandeln, müssen wir es in Debatte und offenen Streit verwandeln. Jeder von uns hat diese Aufgabe, wir können sie an niemanden delegieren. Das Einzige, was wir bisher wirklich aus dem Mord an Charlie Kirk lernen können, ist, dass unsere Debattenkultur den Bach runter geht. Das Einzige, das wir wirklich dagegen tun können, besteht weder im Abfeiern der Tat noch in der Glorifizierung des Opfers. Die einzige Chance, die Gewaltspirale zu brechen, ist die offene, produktive, anstrengende Auseinandersetzung mit politisch Andersdenkenden. Und wenn Du jetzt schon an Personen denkst, mit denen Du auf gar keinen Fall reden würdest, sind das sehr wahrscheinlich genau diejenigen, bei denen Du anfangen solltest.